Ichthyose – Flavio Minelli
August 2009„Meine Frau und ich wußten, daß mein Schwiegervater eine Ichthyose hat, aber wir wußten nicht, daß die erblich ist“, sagt Flavio Minelli, Mitglied des Eurordis-Vorstandes. „Bei meiner Frau wurde eine Fruchtwasseruntersuchung durchgeführt, und die Ärzte fragten uns nach genetischen Krankheiten in unseren Familien. Aber wir dachten niemals daran, die Ichthyose zu erwähnen. Hätten wir nur gewußt …“ Flavios Schwiegervater hat eine [X-chromosomal-rezessive Ichthyose->http://www.orpha.net/consor/cgi-bin/OC_Exp.php?Lng=GB&Expert=461], deren Anlage er an seine Tochter, Flavios Frau, vererbte. Sie ist selbst von der Krankheit nicht betroffen, aber sie übertrug ihrerseits die Anlage auf ihren Sohn Valerio. Die meisten Frauen, die ein Kind mit dieser Krankheit erwarten, haben bei der Entbindung eine Wehenschwäche. Dies hat mit dem Mangel der Steroid-Sulfatase beim Kind zu tun, einem Enzym im Abbauweg des Cholesterins. „Zum Geburtstermin blieben die Wehen aus. Deshalb wurde meine Frau sorgfältig überwacht“, sagt Flavio. „Meine Frau rief mich an und sagte, sie wolle, daß nun die Wehen induziert werden. Ich war schon fast auf dem Weg in die Klinik, als mich meine Frau noch einmal anrief, das Herz des Kindes habe aufgehört zu schlagen und sie werde jetzt in den Operationssaal gebracht!“ Die Ärzte führten den Kaiserschnitt in weniger als drei Minuten durch. Das Neugeborene wurde wiederbelebt und mußte beatmet werden, weil die eigene Atmung nicht sofort einsetzte. Die Ärzte informierten Flavio, man müsse abwarten, um zu wissen, ob die Organe seines Sohnes bleibende Schäden davongetragen haben. Valerio wurde im Krankenhaus zwei Wochen lang sorgfältig überwacht. Die Ärzte suchten nach möglichen Folgen des Sauerstoffmangels, d.h., nach Funktionsstörungen des Gehirns, des Herzens und der Nieren, fanden aber keine. „Die Ärzte meinten, daß es ein Unfall ohne eine erkennbare Ursache war“, sagt Flavio.
„Das erste, was mein Schwager sagte, als er Valerio sah, war: ‚Oh, wir hatten Glück, er hat Vaters Ichthyose nicht geerbt‘.“ Erst jetzt begriff Flavio, daß mehr im Spiel war, als die Ärzte ihm mitgeteilt hatten. Deshalb suchte er im Internet nach weiteren Informationen und ignorierte dabei zunächst alles, was er über seltene Krankheiten fand. Schließlich aber wurde er auf eine private Hilfsorganisation für Eltern und Kinder mit Ichthyose aufmerksam und setzte sich mit ihr in Verbindung. Nachdem er dort über das Geschehene berichtet hatte, sagte der Koordinator der Gruppe, daß Valerio wahrscheinlich eine X-chromosomal-rezessive Ichthyose habe. „Die Ärzte machten noch einige Monate lang mit meinem Sohn Tests, um herauszufinden, ob durch den Sauerstoffmangel Schäden zurückgeblieben waren. Aber zu keiner Zeit versuchten Sie herauszufinden, warum alles passiert war.“ Nach 6 Monaten schließlich erklärten die Ärzte, es sei mit Valerio ‚wirklich alles in Ordnung‘ und wir müßten uns keine Sorgen mehr machen. „Wir waren damals so erleichtert“, sagt Flavio.
In der Zwischenzeit hatten seine Frau und er weiter im Internet nach Informationen über die Ichthyose gesucht. Sie fanden Sites für praktische Ärzte und für Spezialisten, z.B. den [OMIM->http://www3.ncbi.nlm.nih.gov/entrez/query.fcgi?db=OMIM]-Katalog der Gene und der genetischen Krankheiten des Menschen (Online Mendelian Inheritance in Man). Und sie waren froh, daß 1 Monat nach Valerios Geburt die Hilfsorganisation für Ichthyose in Rom in einer Klinik tagte, die sich der Erforschung und Behandlung von Hautkrankheiten widmet. Dort trafen sie endlich auf einen Arzt, der ihnen zuhörte. Er bestätigte, daß Valerio mit eine leichte Verlaufsform der Ichthyose. An den Gliedmaßen und am behaarten Kopf ist die Haut trocken und mit Schuppen bedeckt. „Wir behandeln ihn nach dem Baden mit Cremes, um sicher zu sein, daß die Haut feucht bleibt“, sagt Flavio. „Die Ichthyose kann nicht geheilt werden, und medizinische Behandlungsmethoden sind nur den schwereren Fällen von Ichthyose vorbehalten.“ Hielten diese Erfahrungen Flavio und seine Frau davon ab, weitere Kinder zu haben? Keineswegs! „Jetzt wußten wir genug über die Krankheit. Deshalb hätte uns ein zweites Kind mit Ichthyose nicht erschreckt. Um das Drama einer verlängerten Geburt zu vermeiden, wurde 2 Wochen vor dem rechnerischen Termin die Wehentätigkeit künstlich in Gang gesetzt. Unser zweiter Sohn, Lorenzo, wurde ohne Ichthyose geboren.“
Im Jahr 2002 wurde Flavio Koordinator der Gruppe, die seiner Frau und ihm zuerst geholfen hatte. Im März 2003 gründeten beide ihre eigene Vereinigung, UNITI, die Italienische Ichthyose-Union, um ganz gezielt Menschen zu helfen, die Ichthyose entweder als primäre Erkrankung oder als ein Symptom anderer Krankheiten haben. Weil sie Hilfe und Anleitung erfahrener Gruppen benötigten, trat UNITI der Italienischen Föderation für Seltene Krankheiten (UNIAMO) bei. Danach engagierte sich Flavio zunehmend mehr für die Arbeit von UNIAMO. Auf deren Hauptversammlung 2003 wurde er in den Vorstand und zum Vize-Präsidenten gewählt. Von UNIAMO zu Eurordis war es nun ein ganz natürlicher Schritt: Im Jahr 2005 wurde Flavio in den Eurordis-Vorstand gewählt. Jetzt ist Flavio nicht mehr im Vorstand von UNIAMO, aber er vertritt diese Vereinigung weiterhin bei ihren internationalen Aktivitäten.
Was treibt ihn an? „Mein Engamement ergibt sich aus dem Wunsch, etwas für die Menschen in Europa mit seltenen Krankheiten zu leisten und ihnen die lähmenden Selbstvorwürfe und Grübeleien zu ersparen, mit denen wir uns selbst geplagt hatten. Schnelle, verläßliche und mitfühlende Vermittlung von Informationen aus der Sicht von Patienten ist zu wichtig, um sie den Experten zu überlassen.“ Deshalb erklärte er sich auch bereit, das e-Mail-Forum für Ichthyose zu betreuen, das z.Zt. von Eurordis eingerichtet wird. Es ist das Ziel des Forums, Informationen auszutauschen und die Menschen, die mit einer seltenen Krankheit in Europa leben, aus ihrer Isolation herauszuholen. Wenn Sie Interesse an der Internet-Gruppe von Patienten mit Ichthyose haben, besuchen Sie bitte [http://eurordis.medicalistes.org->http://eurordis.medicalistes.org/rubrique4.html]. Wenn Sie ein Diskussions-Forum für Ihre eigene Krankheit einrichten möchten, schreiben Sie uns: eurordis-list@eurordis.org.
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Dieser Beitrag erschien in der Februarausgabe 2006 unseres Rundbriefs
Autor: Jerome Parisse-Brassens
Übersetzer: Ulrich Langenbeck
Fotos: © Flavio Minelli