Skip to content
Generic filters
Exact matches only
Search in title
Search in content
Search in excerpt

Osteogenesis Imperfecta

Juni 2010

Mutter und Tochter erfahren gemeinsam die Glasknochen-Krankheit

Als Osteogenesis imperfecta (OI) wird eine Gruppe von seltenen genetischen Krankheiten bezeichnet, die sich vor allem an den Knochen äußern.

Inge WallentinDiese brechen bei Menschen mit OI sehr leicht, oft schon nach leichtem Trauma oder sogar ohne erkennbare Ursache.  Ute und ihre Mutter Ingeborg wurden mit der leichtesten OI-Form, dem Typ I, geboren. Beide haben vielfache Frakturen, Schmerzen und Aufenthalte in Krankenhäusern durchgemacht. Mutter und Tochter trennen 27 Jahre, und ihre OI haben sie ganz unterschiedlich erfahren.

1936 in Prag: Die kleine Ingeborg Wallentin hat sichtlich Schmerzen, immer schreit sie. Weil sie einen Oberschenkelbruch und Augen mit blauer statt weißer Sklera hat, wird bei dem vor Termin geborenen Mädchen eine Osteogenesis imperfecta diagnostiziert. Sie ist erst 10 Tage alt, und die Ärzte sagen, sie würde das nicht überleben. Ihre traurigen Eltern nehmen sie ‚zum Sterben‘ mit nach Hause. Patienten mit seltenen Krankheiten haben sich zwar immer schon für stärkere Aufklärung eingesetzt, doch 1936 gab es eigentlich gar keine Informationen. Immerhin war bei Ingeborg die richtige Diagnose gestellt worden und so wussten die Eltern, dass die Krankheit ihrer Tochter auch Glasknochen-Krankheit genannt wird. Damit war klar, dass es ihr umso besser gehen würde, je weniger Knochenbrüche sie erleidet. Ingeborg, jetzt eine 74 Jahre alte Dame, sagt: „Meine Eltern haben mich liebevoll betreut, deshalb lebe ich.“

1962 in Deutschland: Ute ist etw as älter als 12 Monate. Sie beginnt zu laufen, da hat sie ihren ersten Knochenbruch. Nach einer Serie von Brüchen wird bei ihr die ‚Glasknochen-Krankheit‘ diagnostiziert und plötzlich realisiert ihre Mutter, dass sie ihre eigene Krankheit an ihre Tochter vererbt hat. „Ich wusste nicht, dass sich die OI vererben kann, meine Eltern waren gesund, und niemand klärte uns auf. Als die Krankheit bei Ute diagnostiziert worden war, fühlte ich mich schrecklich schuldig und war sehr unglücklich“, erzählt Ingeborg. Ute ist eher humorvoll, wenn sie an ihre Diagnose denkt: „Meine Mutter war schwanger, als bei mir die Diagnose gestellt wurde. Glücklicherweise wusste sie auch damals noch nicht, dass die OI eine erbliche Krankheit ist. Sonst würde es vielleicht meinen Bruder heute nicht geben!“

OIFE meetingWährend Ingeborg seither mit dem Schuldgefühl lebt, dass sie die OI an ihre Tochter vererbt hat (ihr Sohn ist nicht betroffen), hat Ute das Gefühl, dass sie „besser beschützt“ wurde, weil ihre Mutter die gleiche Krankheit wie sie selbst hat. „Meine Mutter war immer sehr aufmerksam aber auch überbeschützend. Immer wenn ich eine Fraktur hatte und unter Schmerzen und den Einweisungen ins Krankenhaus litt, fühlte sie sich verantwortlich für meine Beschwerden. Dann habe ich immer versucht, sie zu trösten.“

Die Schulzeit (natürlich ohne Sportstunden) war für Ute, wie auch früher für ihre Mutter, eigentlich eine ganz normale Sache. Ute erinnert sich aber, dass sie oft ein Gefühl von Einsamkeit hatte: „Ich habe wunderbare Erinnerungen an eine sehr glückliche Kindheit mit Familie und Freunden. Im Rückblick erkenne ich aber auch, dass ich mich recht einsam, manchmal sogar isoliert fühlte, weil ich ‚anders‘ war. Ich konnte nicht die gleichen Dinge wie alle anderen machen. Immer musste ich vorsichtig sein und wurde von meinen Eltern und anderen Erwachsenen mit besonderen Maßregeln versorgt. Meine Eltern taten alles ihnen Mögliche, um mir ein möglichst normales Leben zu ermöglichen. Trotzdem hatte ich manchmal das Gefühl, dass ich vom ‚normalen Leben‘ ausgeschlossen war.“ Aber Ute erinnert sich auch an kleine Genugtuungen: „Ja, ich war meinem Bruder überlegen und kommandierte ihn oft herum, und weil ich doch krank war, konnte er es mir nicht heimzahlen! Manchmal bin ich wohl eine fürchterliche Schwester gewesen!“  

Ute WallentinUte Wallentin ist jetzt 47 und Präsidentin der Osteogenesis Imperfecta Federation Europe (OIFE).  In Teilzeit arbeitet sie als Sozialarbeiterin und kümmert sich in Bamberg um Migranten. Motivation für ihre Aktivitäten in der OI-Community war ihr Gefühl der Einsamkeit, das sie als Kind gehabt hatte. „Ich wollte andere Menschen mit OI finden und erfahren, wie sie leben und mit ihrer OI umgehen. Wir sind die wirklichen Spezialisten für OI und haben das Glück, dass wir unsere Aktivitäten mit der Arbeit vieler engagierter Wissenschaftler bündeln können.“ OIFE hat gegenwärtig 23 Mitglieder, darunter 17 aus europäischen Ländern. Die anderen leben in Australien, Ecuador, Mexiko, Peru, Georgien und in den USA.  „Ich hoffe sehr, dass sich die Lebensbedingungen der Menschen mit einer solch seltenen und oft unbekannten Krankheit überall auf der Welt zum Besseren wenden und dass wir uns in der Zukunft noch viel wirksamer gegenseitig helfen können. Ich wünsche mir eigentlich nicht, dass die OI oder andere ähnliche Behinderungen vollständig ‚abgeschafft‘ werden. Mein Ziel ist nicht, gegen meine OI zu kämpfen, sondern gut mit ihr zu leben.“

Ingeborg erzählt uns, dass die Osteogenesis imperfecta ihr Leben, seit sie erwachsen ist, nicht mehr sehr beeinträchtigt hat: Sie arbeitete, heiratete und bekam zwei Kinder. Immer findet sie in ihrer Umgebung Hilfe, wenn es nötig ist, und ihre Angehörigen und Freunde verehren sie. So ist Ingeborg ein Beispiel dafür, was ihre Tochter allen Patienten mit einer seltenen Krankheit wünscht – gut zu leben.

Sehen Sie ein Video-Interview mit Ute Wallentin:


Dieser Artikel wurde zuerst in der Juli 2010 -Ausgabe des EURORDIS-Newsletter veröffentlicht.

Autor: Nathacha Appanah
Übersetzer: Ulrich Langenbeck
Fotos: © Ute Wallentin & OIFE