Marshall-Smith-Syndrom: Der Griff nach den Sternen
August 2010Liesbeth Laan, eine Schulschwester aus Den Haag, hatte eine leichte Schwangerschaft und brachte im Juli 2006 Joas zu Hause zur Welt.
Aber in den ersten sechs Monaten seines Lebens musste der kleine Junge immer wieder einmal ins Krankenhaus. „Gleich nach der Geburt hatte er Atemprobleme und blieb einen Monat lang im Krankenhaus. Er hatte einen engen Rachen und enge Nasengänge und musste mit einer Magensonde ernährt werden. Weil er nicht nur diese Probleme, sondern auch ein merkwürdiges Gesicht hatte, war uns klar, dass Joas ein Syndrom hat, aber selbst nach vielen Untersuchungen war die genaue Diagnose immer noch nicht bekannt“, erinnert sich Henk-Willem Laan, Joas‘ Vater. Zwei Monate später entdeckten die Ärzte bei Joas ein fortgeschrittenes Glaukom. So kam es zu seiner ersten Operation.
Die richtige Diagnose wurde eigentlich zufällig gestellt: Im Januar 2007, als ein Genetiker Fotos von Kindern mit seltenen Krankheiten studierte, fand er eines mit dem gleichen Gesicht wie bei Joas. Das Kind hatte ein Marshall-Smith-Syndrom (MSS), eine sehr seltene Krankheit des Kindesalters mit spezifischen Gesichtsmerkmalen, Atemproblemen und beschleunigter Knochenreifung (1993 wurde ein Neugeborenes mit MSS gesehen, das ein Knochenalter von 3 Jahren hatte). Der Genetiker verglich die Symptome des Kindes mit denen von Joas, und viele waren tatsächlich sehr ähnlich. Eine Röntgenaufnahme von Joas‘ Hand bestätigte schließlich die Diagnose.
Was sollte man mit solchen Neuigkeiten anfangen? Was war zu tun? „Wir brauchten erst einige Zeit, um damit fertig zu werden. Der Genetiker sagte uns aufrichtig, dass er über dieses Syndrom nicht viel wisse und gab uns stattdessen einen medizinischen Artikel über das MMS. Wir waren tief schockiert, als wir darin lasen, dass die Lebenserwartung nur drei Jahre beträgt. Nach einer Weile fingen wir an, im Internet herumzusuchen, aber es gab dort praktisch nichts über MSS. Dann lernten wir zwei andere holländische Familien kennen, die auch mit MSS leben. Deren Töchter Nina 11 und Adriana waren damals 11 und 4 Jahre alt. Die Eltern dieser Mädchen gaben uns eine Menge Informationen, praktisch alles kam aus ihren eigenen Erfahrungen“, berichte Joas‘ Vater.
Wie viele andere Eltern von Kindern mit seltenen Krankheiten hatten die Laans ein “vor” und ein “nach” Jonas. Aber trotz der schweren Zukunft, die dieses Syndrom für ihr Kind bereit hält, wollten sie der Realität nicht tatenlos entgegensehen. „Mit den holländischen Eltern schufen wir als erstes eine WebSite. So kamen wir mit anderen Eltern aus aller Welt in Kontakt. Jetzt gibt es die WebSite schon in mehreren Sprachen. Gegenwärtig haben wir weltweit Kontakt mit 21 Familien.“ Das Syndrom ist so selten und seine genetischen Ursachen so unbekannt, dass es praktisch keine Statistiken gibt. Der Aufbau einer solchen Gemeinschaft für eine sehr seltene Krankheit in einer solch kurzen Zeit ist eine enorme Leistung … aber es nicht die einzige. „Wir wendeten uns an Professor Hennekam in London. Er arbeitet dort am Institute of Child Health des University College und im Great Ormond Street Hospital for Children und war bereit, mit Forschungen über MSS zu beginnen. Also gründeten wir die MSS-Forschungsstiftung und begannen nach Anerkennung ihrer Gemeinnützigkeit mit Geldsammlungen, um die ersten Forschungsarbeiten zu finanzieren. Mit der Hilfe des Dutch Rare Disease Fund und der Dutch Genetic Alliance kamen innnerhalb eines Jahres mehr als € 40.000 zusammen. Das reichte nicht nur für die Finanzierung der ersten wissenschaftlichen Arbeiten, sondern auch noch für ein internationales, weltweites Familientreffen.“
Zeitgleich mit dem Zweiten Tag der Seltenen Krankheit brachte die MSS-Gemeinschaft 9 Familien zum ersten globalen MSS-Familientrefffen in Holland zusammen. Über EURORDIS‘ RDD WebSite war diese Veranstaltung angekündigt worden. „Wir schrieben unsere Geschichte auf und stellten dazu ein Video über MSS ins Netz, alles unter dem Motto ‚Seltene Krankheiten wie MSS brauchen STARS: Social acceptance, Treatment, Awareness, Research, Sponsors”, berichtet Henk-Willem.
Während dieses Familien-Wochenendes wurde nicht nur über die ersten Untersuchungs-ergebnisse, u.a. Aspekte der körperlichen Entwicklung und des Verhaltens bei Patienten mit MSS, berichtet. Sinn des Treffens war auch, den Kindern und Eltern angenehme Erlebnisse zu bieten. Es gab deshalb nicht nur interessante, sondern auch lustige Programme: Für Kinder einen Bauernhof mit Tieren, für Mütter Kosmetikkurse, für Väter Überlebenstraining. „Eigentlich alle Familien ließen uns wissen, dass es eine ganz besondere Erfahrung war und dass sie sich jetzt nicht mehr so allein fühlten – und Einsamkeit ist wohl wirklich das wichtigste Problem im Leben mit einer sehr seltenen Krankheit. Jetzt sind wir eine MSS-Familie und werden für immer zusammenbleiben“, versichert uns Henk-Willem.
Die MSS-Gemeinschaft klärt weiter über die Krankheit auf und sammelt Geld, damit auch eine zweite Forschungsphase möglich wird. Joas geht es im Moment gut. Er inspiriert seine Eltern mit seiner Art, nur von einem Tag zum nächsten zu denken. „Wenn es ihm gut geht, ist er ein fröhlicher Junge, selbst wenn er sich am Tag davor noch quälen musste. Er ist wirklich unser Sonnenschein.“ Seit sie mit den ersten Forschungsergebnissen erfuhren, dass ein Patient mit MSS in Amerika schon 29 Jahre alt ist, hoffen Joas‘ Eltern, dass ihr Kind noch viele Jahre bei ihnen bleiben wird.
Dieser Artikel wurde zuerst in der Mai 2009 -Ausgabe des EURORDIS-Newsletter veröffentlicht.
Autor: Nathacha Appanah
Übersetzer: Ulrich Langenbeck
Fotos: © marshallsmith.org