Mit den Augen sprechen: Locked-in-Syndrom
August 2009MIT EINER SELTENEN KRANKHEIT LEBEN
Das Locked-in-Syndrom
Luigi Ferraro war der glücklichste Mann der Welt. Daniela, seine Frau, stand kurz vor der Geburt ihres zweiten Kindes. Aber plötzlich, ohne Vorwarnung, brach eine ganze Welt zusammen. Nur fünf Stunden nach der Entbindung bekam Daniela Kopfschmerzen und fiel in ein Koma.
„Ich geriet sofort in Panik“, erinnert sich Luigi, „denn ich hatte keinerlei Ahnung, was los war, und auch die Ärzte konnten nichts sagen. Dann fanden sie eine Blutung im Hirnstamm und verlegten sie in ein anderes Krankenhaus, wo der Blutungsherd chirurgisch ausgeräumt wurde. ‚Sie hat keine Chance zu überleben‘, sagten mir die Ärzte nach der Operation. Aber sie überlebte, wenn auch in einem Zustand, den alle für ein tiefes Koma hielten. Irgendwann sagten dann die Ärzte, meine Frau müsse die Intensivstation verlassen. So kam Daniela in eine Einrichtung, in der das medizinische Personal aber nicht sonderlich professionell war. Ich beschloss deshalb, Daniela in eine bessere Einrichtung zu bringen. Damals gewann ich das Gefühl, dass Daniela wach und bei vollem Bewusstsein ist. ‚Sie sind zu emotional, sie können sich nicht der Realität stellen, Ihre Frau liegt im Koma‘, war die Antwort der Ärzte.“ Aber Luigi gab nicht auf, und bald merkte das medizinische Personal, dass er recht hatte. Daniela war bei vollem Bewusstsein, aber sie konnte keinen einzigen Teil ihres Körpers bewegen! Leider waren seit der Entbindung schon fünf Monate verstrichen, und viel wertvolle Zeit blieb ungenutzt. Nun stellten die Ärzte bei Daniela die Diagnose eines Locked-in-Syndroms.
Das Locked-in-Syndrom (LIS) ist eine seltene neurologische Erkrankung mit vollständiger Lähmung aller willkürlichen Muskeln in allen Teilen des Körpers außer den Muskeln, die die Bewegung der Augen kontrollieren. Mögliche Ursachen sind: Traumatische Hirnschädigung, Kreislaufkrankheiten, demyelinisierende Krankheiten (bei denen die Myelinscheiden der Nerven zerstört werden) und Überdosierung von Medikamenten. Menschen mit LIS sind bei vollem Bewusstsein, können denken, haben eine klaren Verstand, können aber nicht sprechen und sich nicht bewegen. Es gibt keine Heilung, nicht einmal eine allgemein anerkannte Behandlungsmethode.
„Das Leben ist sehr schwer“, sagt Luigi Ferraro. „Oft lässt mich Daniela verstehen, dass sie sterben will, dass es besser wäre, wenn sie ein echtes Koma hätte, dass es schrecklich ist, denkend und bei Bewusstsein im eigenen Körper gefangen zu sein. Aber wir haben zwei Kinder, und die halten sie am Leben. Daniela unterhält sich mit uns, indem sie ihre Augen auf- und abwärts bewegt. Bis heute hat sich bei ihr keinerlei besserung gezeigt. Meine einzige Hoffnung ist jetzt die Stammzelltherapie. Ich versuche, meiner Frau und meinen beiden Kindern trotz der widrigen Umstände ein bestmögliches Leben zu bieten. Dafür habe ich auch den Verein Die Freunde von Daniela gegründet um Hilfe zu schaffen und die Familien mit LIS zu unterstützen.“
Im Moment wird für das Syndrom gerade eine europäische Föderation gegründet. „Es war nach dem Treffen mit Luigis Verein, dass die Idee für diese Föderation auftauchte“, sagt Veronique Blandin, von der französischen LIS-Assoziation (ALIS). „Die Kenntnise über die Krankheit und die Qualität der Behandlung für die Betroffenen ist in Frankreich besser als in Italien. Wir wollen den Menschen, die mit dieser Krankheit leben, einen Lebenssinn zurückgeben. Wir wollen das Bewusstsein für diese Krankheits verbessern und in ganz Europa die Qualität der Behandlung verbessern.“
„Wenn jemand ins Koma fällt, der Dir so nahe steht wie Deine eigene Frau, dann ist Dir, als wärest Du in einem Tunnel, würdest im Dunkeln tappen und nicht wissen, was man tun soll …“, fährt Luigi fort. „Das Leben ist schwer, aber ich höre nicht auf, den Familien zu sagen, dass sie niemals aufhören dürfen, die Person zu lieben, die von LIS betroffen ist. Dass sie diese Person niemals einer gefühllosen Pflegeeinrichtung ausliefern dürfen. Sie leben und sind bei vollem Bewusstsein, genau wie wir. Alles was sie brauchen, ist liebe.“
Dieser Beitrag erschien in der Januarausgabe 2009 unseres Rundbriefs.
Autor: Jérôme Parisse-Brassens
Übersetzer: Ulrich Langenbeck
Fotos: Daniela © The Friends of Daniela; Auge © interconnects.blogspot.com; ALIS logo © ALIS